„Mein Leben ist wie ein Märchen“
Die Geigerin Ervis Gega im Karriere-Gespräch am 25.11.22 in Mainz

Von Barbara Harnischfeger

Ervis Gega gehört zur Villa Musica seit sie bereits mit 19 Jahren Stipendiatin wurde. 2001, als sie 27 war, haben die Freunde der Villa Musica sie kennen gelernt und die Finanzierung ihrer CD-Produktion mit der Harfenistin Silke Aichhorn - Duo Spohr - unterstützt. (Es war die zweite CD-Förderung der „Freunde“ nach Martin Stadtfeld). Ein Jahr später bekommt Ervis Gega als Geigen-Lehrerin ihre eigene Klasse am Peter Cornelius Konservatorium in Mainz und an der Musikhochschule. Zur Villa Musica kommt sie als Dozentin. Zusammen mit Alexander Hülshoff, dem Künstlerischen Leiter, sucht sie die StipendiatInnen mit aus, wenn die Villa Musica Probespiel hat. Irgendwann kann ich sie am Rande eines Jury-Einsatzes als Freundeskreismitglied werben. Ihres Mannes wegen zieht Ervis Gega nach Bonn und dort kommt die Klassische Philharmonie Bonn in ihren Fokus. Sie wird Konzertmeisterin dieses Orchesters. Als der Gründer Heribert Beisel 2021 stirbt, übernimmt sie die Künstlerische Leitung. Das Orchester hat eine Konzertreihe mit Abonnenten in ganz Deutschland und arbeitet wie eine Akademie, was heißt: die Hälfte der Spieler sind wechselnde Nachwuchskräfte und werden von den festen Orchestermitgliedern geleitet. Ervis Gega holt sich auch als Solisten ganz junge Künstler. 2021 war das der Villa Musica-Stipendiat Nathan Tishin, Geige und 2022 wird es die Stipendiatin Zofia Neugebauer, Flöte, sein. Die „Freunde der Villa Musica“ unterstützen das, übernehmen einen Teil des Honorars, denn es ist für die Stipendiaten eine einzigartige Chance, mit Orchester zu spielen – in einer Saison acht bis zwölf Mal – und zwar in den großen Konzerthallen Deutschlands: Kurhaus Wiesbaden, Liederhalle Stuttgart, Landesfunkhaus Hannover, Laisz-Halle Hamburg, Konzerthaus Berlin.

Ein Flüchtlingskind aus Albanien

Ervis Gega ist 1974 in Albanien geboren. Was ist Albanien? Ein selbständiger Staat südlich von Montenegro und nahe dem Kosovo an der Mittelmeer-Küste. Albanien ist seit dem 14. Jahrhundert stark osmanisch, wird 1912 unabhängig, nach internen Machtkämpfen der Dynastien zum Königreich. Im Zweiten Weltkrieg siegen unter den Widerstandkämpfern die Kommunisten. Albanien orientiert sich als kommunistisches Land zunächst nach Jugoslawien, dann nach Rußland, schließlich nach China, ist ein „weißer Fleck Europas“.

Sie stamme aus einer der mächtigsten Politiker- und Unternehmer-Familien Albaniens, sagt Ervis Gega. Der Urgroßvater habe zwischen den Weltkriegen eine große Rolle gespielt und sei umgebracht worden. „Meine Vorfahren waren hoch intelligent und gebildet“. Ihr Großvater sei Arzt in Paris und in Bologna gewesen. Ihr Vater ist Geigen-Professor, ihre Mutter ebenfalls und sie ist Komponistin. „Seit ich denken kann, wollten meine liberalen Eltern weg aus Albanien, damit die Kinder studieren können. Das Land hatte den härtesten Kommunismus im Ostblock, vergleichbar Nordkorea“. 1990 gibt es die Gelegenheit zur Flucht. 3000 Menschen nutzen den Trubel einer Revolte und – ähnlich wie in Prag 1989 die DDR-Bürger - flüchten in Tirana die Albaner in die deutsche Botschaft und können ausreisen.

Familie Gega landet mit der 16jähriger Tochter Ervis, dem Sohn Gersi und beider  Tante und Onkel in der zur Flüchtlingsunterkunft umfunktionierten Schulturnhalle des Sebastian Münster-Gymnasiums in Ingelheim am Rhein. Und hier beginnt die märchenhafte Geschichte der Geigen-Virtuosin Ervis Gega.

Eine Geschichte fürs Fernsehen

Ervis Gega erzählt dem Publikum in der Steinhalle des Mainzer Landesmuseums: In die Flüchtlingsunterkunft nach Ingelheim kommt 1990 der ZDF-Reporter Matthias Nick, um einen Fernseh-Bericht über die Situation zu drehen, seinen ersten Film überhaupt. Er sieht ein Mädchen Geige üben – die 16jährige Ervis Gega. Er bringt das in seinem Film. Ein paar Tage später kommt eine ältere Dame im Rollstuhl in die Flüchtlingsunterkunft. Die Dame gibt dem Mädchen einen adressierten Briefumschlag mit Briefmarke drauf. Die Verständigung ist nur mit ein bisschen Französisch möglich. Und als Ervis später den Umschlag öffnet, ist der leer. Sie weiß nichts damit anzufangen und wirft ihn weg.

Jemand aus Ingelheim bringt die talentierte Geigenschülerin ans Peter Cornelius Konservatorium nach Mainz. Aber ein Studium dort sei für Asylbewerber eigentlich nicht möglich gewesen, erzählt Ervis Gega. Eine Mitarbeiterin der Firma Boehringer, die den Flüchtlingen ehrenamtlich hilft, wendet sich ans Kulturministerium, schaltet zudem den Politiker Johannes Gerster ein. Ervis wird Meisterschülerin von Prof. Neaman. Aber sie braucht eine ordentliche Geige und nicht das billige chinesische Instrument, das sie aus Albanien mitgebracht hat.

Die nette Sekretärin von Boehringer setzt einen Aufruf in die Zeitung und bittet um Spenden für ein Instrument. Da meldete sich wieder die vornehme Dame aus den ersten Tagen im Flüchtlingsheim und sagt: Ich habe Dir doch den Briefumschlag gegeben, damit Du mir schreiben kannst, wenn du Hilfe brauchst.

Um es jetzt kurz zu machen: Diese wohlhabende Frau hat Ervis schließlich eine gute Geige gekauft und sie hat ihr das Studium in London bezahlt. Dort lehrte Prof. Neaman an der berühmten Guildhall School. In London hat Ervis ihr Konzertexamen abgelegt. Während der Studienzeit spielt sie auch ein Instrument aus der Landessammlung Rheinland-Pfalz, die Petrus Guanerius, die heute eine Million Euro wert ist. Aber die Ausleihe der Landesinstrumente durch Villa Musica gilt ja immer nur für zwei Jahre.

Temperamentvolles und seelenvolles Geigenspiel

Eine gute Geigerin braucht ein gutes Instrument. Aber am Wichtigsten ist die Fähigkeit, es zum Klingen zu bringen und ihr eine Seele zu geben. Ervis Gega bezauberte beim Karriere-Konzert in Mainz das Publikum mit ihrem warmen Ton und mit ihrem emotionalen Spiel. Als Reminiszenz an ihre erste CD-Aufnahme mit Hilfe der „Freunde der Villa Musica“ nahm sie neben der Violinsonate von Beethoven Nr. 8 in G-Dur zwei „Salonstücke“ ins Programm – „Salut d’amour“ von Edward Elgar und die „Méditation“ aus der Oper Thais von Jules Massenet. Boris Kuszenow war ihr kongenialer Partner am Flügel. Zur kammermusikalischen Glanzleistung geriet am Ende des Konzertes im Verbund mit Kuszenow und mit Alexander Hülshoff Beethovens Klaviertrio in D-Dur, das sogenannte „Geistertrio“. Hier kam das energische Temperament der Geigerin zur Geltung. Die Zuhörer in der Steinhalle des Landesmuseums Mainz waren hingerissen.

Familie und andere Fans

Die gesamte Familie von Ervis Gega besuchte das Villa Musica-Konzert am 25. November 2022. Natürlich auch der Ehemann Auron Dodi – er ist Redakteur bei der Deutschen Welle in Bonn – und der 13jährige Sohn Maximilian. Der Bruder lebt in Mainz, ist Betriebswirtschaftler und hat eine eigene Medienfirma. Seine Frau ist Geschäftsführerin der IHK Rheinhessen. Die Eltern von Ervis leben immer noch in Ingelheim. Eigentlich wollten sie 1990 weiter zu Verwandten in die USA, „aber meinem Vater gefiel es am Rhein plötzlich so gut und er meinte, Deutschland ist doch das Land der Kultur und der Musik. Hier sind wir richtig.“

Beide Eltern sind Lehrer an der Musikschule des Donnersberg-Kreises.

Ebenfalls beim Karriere-Konzert anwesend war der ehemalige Reporter des ZDF, der 1990 den Film in der Flüchtlingsunterkunft gedreht hatte. Er ist heute Chef vom Dienst bei WISO im ZDF und er hat 2015 einen Film mit Rückblick auf den Karriereweg von Ervis gedreht, die eigentlich Eivis heißt. Ihr Name war 1990 bei den deutschen Meldebehörden nicht erkannt und aus Unwissenheit verändert worden. Den ZDF-Film kann man im Internet bei youtube.de anschauen und anhören.

Und was ist mit Albanien?

1997 gab es einen Bürgerkrieg. 2009 wurde die Wahl angefochten. Bis zum Jahr 2010 war laut Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung fast die Hälfte der Bevölkerung ausgewandert. In Albanien selbst leben heute nur etwa 2,8 Millionen Menschen. Erst seit 2013 ist Ruhe im Land und gibt es Reformen. Seit 2009 ist Albanien Nato-Mitglied und seit 2013 Beitrittskandidat der EU.